Der Frühlingsbote

 

Ist er Optimist? Leichtsinnig und unbedacht? Kaum fallen die ersten Sonnenstrahlen auf die noch winterklamme Erde, da flattert es gelb durch den Garten. Flattert munter über verschlafene Beete, die mit ihren struppigen Pflanzenstängeln aussehen wie ungekämmt. Flattert noch etwas taumelig, aber voller Übermut über trockene Gräser und florales Einheitsgrau. Er ist wieder da, der Zitronenfalter. Auferstanden von den Scheintoten. Und übertrifft mit seinem leuchtenden Gelb die ersten zaghaften Frühlingsblüher. Während alle anderen Falter in Dachstühlen oder Höhlen noch tief in Träume versponnen sind, da traut sich der Zitronenfalter raus in die kahle Landschaft.

Den Winter hat er gut überlebt. Als die Fröste nahten, da suchte er sich schnell ein Gebüsch und hängte sich diskret zwischen die Zweige. Gute Nacht, wir sehen uns im Frühjahr wieder! Um der Kälte zu trotzen, ließ er aus seinen Körperzellen das nicht benötigte Wasser ab. Je trockener ein Gewebe, desto weniger droht ein Erfrieren. Ein Wissen, für das der Zitronenfalter keinen Chemieunterricht braucht. Doch das reichte ihm noch nicht. Um den Sicherheitsfaktor zu erhöhen, brannte der kleine Chemiker sein körpereigenes Frostschutzmittel in Form von Bio-Alkohol. Dann klinkte er sich gedanklich aus. Verschmolz mit dem winterstarren Busch. Wie ein weiteres trockenes Blatt unter Blättern. Es würde schon alles gut werden in seiner Schmetterlingswelt. Und als noch kaum jemand wagte, ans Winterende zu glauben, da fuhr der gefriergetrocknete Falter optimistisch seinen Kreislauf hoch, blinzelte prüfend ins Sonnenlicht und entfaltete die Flügel zum ersten Probeflug. Nun tänzelt er ausgelassen Loopings in die frische Frühlingsluft. Er hat auch allen Grund zu dieser guten Laune. Im Gegensatz zum Rest der Sippe, wo es mit dem Schmetterlingsleben nach kurzer Zeit zuende ist, hat der zitronengelbe Typ als einziger hiesiger Falter eine Lebenserwartung von fast einem Jahr. Dieses biblische Alter erreicht er durch sein Energiespar-Programm, das da heißt: In der Ruhe liegt die Kraft. Ein zusätzlicher Sommerschlummer lässt den Falter ausgeruht in den Spätherbst starten, wo er noch einmal Sonne bunkert für den langen Winterschlaf.

Der ist nun vorbei. Jetzt wird erst mal gefrühstückt. Der Nektar fließt noch nicht in Strömen zu dieser Jahreszeit, aber man ist nicht wählerisch. Auf seiner To-do-Liste der nächste Punkt: Die Suche nach einer passenden Braut. Doch er begegnet nur Männchen, die ebenfalls durch die Gegend streifen. Die Falterdamen? Bis jetzt noch Fehlanzeige. Sind sie Langschläferinnen? Bremst sie ein weibliches Problem: Ich hab nichts anzuziehen!? Eine Wahl bleibt ihnen ohnehin nicht. Ihr bescheidenes grünweißes Outfit kann nicht konkurrieren mit dem leuchtenden Gelb der Männchen. Etwa zwei Wochen später trödeln dann endlich die Damen ein und unser Falter macht sich bereit zum Akt der Arterhaltung.

 

Sein eigenes Leben startete er im vergangenen April aus einem winzigen Ei. Das legte ein Weibchen im Gehölz am nahen Waldrand ab. Es tat das äußerst sorgsam, verwarf diesen Strauch, umflatterte jenen – bis es einen Faulbaum fand, wo es die Eier einzeln an die Zweige klebte. Sechs Tage später stürzten sich kleine mattgrüne Raupen auf die Faulbaumblätter. Dank Mamas Umsicht fraß sich der Nachwuchs im Zeitraffer durch sein Lieblingsfutter, wuchs im Turbogang heran und verpuppte sich ebenso fix. Ende Juni war es soweit für das Wunder der Metamorphose. Aus den bewegungslosen, unansehnlichen Puppen schlüpften duftige, luftige Falter. Unter ihnen unser Schmetterling. Nun rundet sich bald sein Jahr, er hat keine Zeit zu verlieren. Jagt am Waldrand den hellen Weibchen nach, anmutige Debütantinnen auf ihrem einzigen Ball. Sucht sich die Schönste der Schönen aus und animiert sie zu einem neckischen Spiel, einem zauberhafter Tanz der Verführung. Er protzt mit fliegerischem Können, wirbelt um sie herum. Sie weicht ihm aus, kokett und lockend zugleich. Wenig später wird sie ebenfalls nach einem Faulbaum suchen. Es könnte auch ein Kreuzdorn sein. Aus den Eiern werden Raupen schlüpfen und aus den Raupen Falter, der Generationswechsel ist vollzogen. Im nächsten Frühjahr sind es dann ihre Kinder, die uns zitronengelb und übermütig das Ende des Winters verkünden.

© Text: Karin Tamcke

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Der Zitronenfalter, Foto: © jggrz, pixabay